Das Sokratische Gespräch im Kontext zeitgenössischer Diskussion

Es gibtzahlreiche Denkansätze, denen allen ein Ziel gemeinsam ist, nämlich dass Menschen zu urteilsfähigen, mündigen Bürgern gebildet werden sollen. Im Folgenden werden einige Denkformen skizziert beziehungsweise es wird auf Initiativen verwiesen, mit denen das Sokratische Gespräch durch Ähnlichkeiten verbunden ist und die als einander ergänzend gesehen werden können.

Sokratisches Gespräch und Diskurstheorien

Ohne dass das Sokratische Gespräch als bloße Anwendung einer gegebenen Theorie missverstanden werden darf, lassen sich doch enge Bezüge zu der von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas in den 70er Jahren entwickelten Diskurstheorie aufweisen. Diese begründet Diskursnormen, indem sie die Argumentations- bzw. Diskursbedingungen {Apel, Transzendentalpragmatik) aufdeckt und die Bedingungen kommunikativen Handelns (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns) erläutert.

Apel hat die relativistischen Tendenzen der pragmatisch-hermeneutischen Wende in der Philosophie kritisiert. Sein Hauptargument für eine universalistisch orientierte Philosophie besteht in dem Nachweis, dass einige Sinnbedingungen des Redens unhintergehbar sind, weil deren Anzweifeln in einen pragmatischen Selbstwiderspruch führe zwischen dem, was bezweifelt wird, und dem, was im Akt des Bezweifelns als gültig unterstellt werden muss.

Habermas entwickelte die Grundlagen für eine rationale Theorie des Diskurses und unterscheidet dabei vier universale Geltungsansprüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, die für jeden Argumentationsbeitrag notwendige Voraussetzung sind.

Die aufgewiesenen Diskursnormen bilden den Grundstein für eine Ethik der Erfolgs- und Zukunftsverantwortung. Es zeigt sich, dass der Mensch als vernunftfähiges Wesen immer schon dazu verpflichtet ist, den anderen als gleichberechtigten und wahrheitsfähigen Diskussionspartner ernst zu nehmen, den idealen argumentativen Konsens als Geltungskriterium zur Prüfung von Behauptungen anzuerkennen und in Konfliktfällen eine konsensuelle Lösung anzustreben. Damit ist die doppelte Pflicht verbunden, sich einerseits für die Verbesserung der Verständigungsverhältnisse einzusetzen, andererseits für die Erhaltung der Menschheit als der Sinn- und Existenzbedingung von Verständigung Sorge zu tragen.

Die Inhalte der Diskursethik, vor allem ihre Orientierung an allgemeingültiger Wahrheit und an Verständigung, kennzeichnen die Diskurstheorie und sind ebenso im Sokratischen Gespräch verwirklicht. Auf Parallelen zwischen Sokratischem Gespräch und rationalem Diskurs weist u.a. ein kritischer Beitrag Gustav Heckmanns in seinem Buch "Das Sokratische Gespräch" hin. (Vgl auch Gisela Raupach-Strey: Das Sokratische Paradigma und die Diskurstheorie - in Birnbacher/ Krohn (Hrsg.): Das Sokratische Gespräch. Reclam Bd. 18230, S. 106 -139.)

Das Sokratische Gespräch unterscheidet sich von der Diskurstheorie vor allem darin, dass es in ihm weniger darum geht, die Grundlagen des Redens und Argumentierens zu begründen, als die aufgewiesenen Prinzipien im Gespräch praktisch werden zu lassen. Im Sinne der Diskursethik stellt das Sokratische Gespräch einen Diskurs par excellence dar.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in aller Kürze wie folgt skizzieren:

Entsprechungen:

Die Universalität der Vernunft bzw. die Teilhabe der Subjekte an der Vernunft;

die Idee der unbegrenzten Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft;

die Aufklärungsidee von Sokrates und Kant, in deren Tradition auch die Diskurstheorie steht und die jedem Dogmatismus entgegensteht;

die Anerkennung der Diskurspartner nicht nur als gleichberechtigter Erkenntnissubjekte, sondern realer Lebewesen in naturhaften und sozialen Bezügen, mit Interessen und mit ihrer Geschichte;

die Universalität des Geltungsanspruchs von Erkenntnissen, die in wahren Aussagen sprachlich gefasst und mitgeteilt werden;

die Idee der Öffentlichkeit als Kriterium der Allgemeinheit und Allgemeinverbindlichkeit von Erkenntnissen.

Unterschiede:

Die Sokratischen Gespräche in unserer heutigen Praxis sind handlungsentlastet und in diesem Sinne zweckfrei; sie dienen nur der Wahrheitserkenntnis, allerdings über theoretische wie praktische Fragen. Die Diskurstheorie dagegen reflektiert auch Diskurse unter Handlungsdruck und führt an dieser Stelle die kategoriale Unterscheidung ein zwischen idealen und realen Diskursen bzw. fairen Verhandlungen (Habermas); letztere stehen unter dem Zwang, dass am Ende eine Entscheidung gefällt werden muss. Umgekehrt scheinen auch in der Diskurstheorie die handlungsentlasteten – insofern idealen – Diskurse einen geltungslogischen Primat zu haben, sofern in ihnen etwa ein Konsens über reale Diskursverzerrungen erzielt wie auch Fairnessbedingungen für Verhandlungen gerechtfertigt werden können müssten.

Die aufklärerische Funktion hat in der Diskurstheorie Habermasscher Provenienz besteht vor allem darin, nützlich für soziale Integration und "Aufhebung" von Dissensen zu sein, die den Ablauf kommunikativen Handelns stören. Die aufklärerische Funktion Sokratischer Gespräche hat hingegen vorrangig eine subjektive Dimension. Die subjektive Bedeutung von Erkenntnissen oder auch einzelnen, eventuell unscheinbar erscheinenden Erkenntnisschritten kann durchaus sehr unterschiedlich sein für verschiedene, am gleichen Gespräch beteiligte Gesprächspartner. Erkenntnisse bringen nicht nur die Sache, sondern auch den Menschen voran. Dieses Ziel der Persönlichkeitsbildung wird in der Diskurstheorie gar nicht thematisiert. In ihr wird der mündige Mensch zwar vorausgesetzt, aber er ist immer schon da, es wird kein Entwicklungsprozess angenommen.

Themenzentrierte Interaktion und Sokratisches Gespräch

Zu den wichtigsten Interaktionsformen der humanistischen Psychologie und Pädagogik gehört die von Ruth Cohn entwickelte Themenzentrierte Interaktion (TZI), ein Verfahren zur Förderung des lebendigen Lernens und der offenen Interaktion in Gruppen. TZI und Sokratisches Gespräch weisen hinsichtlich ihrer kommunikativen Praxis und ihrer Spielregeln eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, haben jedoch unterschiedliche Grundintentionen.

In der TZI geht es nicht um Suche nach Wahrheit, sondern um die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer und um optimale Bearbeitung eines Themas in der Gruppe. Wichtig ist dabei, dass und wie sich die einzelnen in der Gruppe darstellen und behaupten. Im Sokratischen Gespräch kommt es bei der Suche nach den allgemeinen Grundlagen unserer Überzeugungen dagegen in erster Linie auf rationale Argumente und deren Begründung an. Den Schwerpunkt der Kommunikation bildet die Suche nach für alle einsichtigen Erkenntnissen und deren Begründung. Inder TZI richtet sich das Hauptaugenmerk nicht nur auf die Sache/das Thema, sondern ebenso auch auf die nicht rationalen, subjektiven Äußerungen der Teilnehmer. Eine Balance zwischen beiden wird als optimale Kommunikationsstruktur angestrebt. Im Sokratischen Gespräch werden persönliche Probleme und subjektive Fragen beziehungsweise Störungen in dem vom Sachgespräch abgetrennten Metagespräch nur soweit einbezogen, als es dem Sachgespräch förderlich ist.

Trotz eindeutig unterschiedlicher Ziele von TZI und Sokratischem Gespräch und der daraus folgenden strukturellen Unterschiede gibt es bezüglich der Praxis beider Gesprächsformen eine Reihe von Gemeinsamkeiten: so etwa die Forderung nach Authentizität, das Verbot von Seitengesprächen, die Forderung nach Ernstnehmen des Andersdenkenden und die Anerkennung aller Teilnehmer als gleichberechtigte Gesprächspartner. Das Sokratische Gespräch führt primär zu - in regressiver Abstraktion (hier Verweis auf anderes Stichwort?) gewonnenen - Erkenntnissen, dient aber dabei meistens in willkommener Nebenwirkung auch dem Ziel, das Ruth Cohn als Zielsetzung für TZI benennt: Intensivierung der Kommunikation und Stärkung des Wir-Gefühls.

Logotherapie und Sokratisches Gespräch

Mit der Betonung des "Willens zum Sinn" grenzt Viktor E. Frankl die Logotherapie und Existenzanalyse, seine sogenannte "Dritte Wiener Schule" ab von Freuds Psychoanalyse (mit dem Primat des "Willens zur Lust") und von Adlers Individualpsychologie (mit dem Primat des "Willens zur Mach"). Der menschliche Wille zum Sinn wird in der Logotherapie als empirisch nachweisbar angenommen, und es wird vorausgesetzt, daß die Freiheit des Willens dem Menschen zugehörig und daß das Leben unter allen Umständen sinnvoll ist. Im Unterschied zu den humanistischen Psychologien wird in der Logotherapie nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Selbst-Transzendenz als höchstes Ziel menschlichen Daseins gesehen.

Nach Frankl hat Mensch-Sein drei einander durchdringende Dimensionen. In seiner Dimensionalontologie nimmt Frankl in Anspruch, daß seine Schule als einzige unter den Psychotherapien der geistigen oder noetischen Dimension den angemessenen Rang, nämlich den höchsten gegenüber dem Psychophysikum, einräumt. Die noetische Sphäre ist der Ort der freien Stellungnahme zu Leiblichkeit und Befindlichkeit, des Wert-Verständnisses und der wertorientierten Willensentscheidungen. Damit ist die Nähe zum Sokratischen Denken offenkundig: Dem Menschen wird zugetraut und zugemutet, zu sich selbst in jeder Lebenslage Distanz einzunehmen - wie Sokrates es vorgelebt hat, als er seine prüfende Haltung auch angesichts des Todes noch auf sich selbst anwandte.

Im logo-therapeutischen Prozess ist die Sinnsuche gleichbedeutend dem Wecken (oder Wach-Werden) von Wertbewusstsein und dem Training im Abwägen der Werte. Entscheidungsschwäche soll so überwunden werden. Getroffene Entscheidungen sollen verantwortungsbewusst - auch gegen Widerstände - in Handeln umgesetzt werden.

An das Sokratische Gespräch, in dem das Begründen von Urteilen und auch von Wertvorstellungen geübt wird, knüpfen sich ganz ähnliche Hoffnungen: Die in der Sokratischen Methode geübten und erfahrenen Menschenwerden autonomer zu begründeten Urteilen kommen und eher in der Lage sein, ihr Handeln danach auszurichten. Wo die Logotherapie den engeren therapeutischen Zusammenhang sprengt und im Sinne einer Motivationstheorie in Erziehung und Bildung hineinwirken will, erreicht sie eine besondere Nähe zur Sokratischen Bildungsauffassung.

Wenn allerdings Viktor Frankl vom sokratischen Dialog als Teil seines therapeutischen Konzepts spricht, so trifft das nicht die moderne Gestalt der Sokratischen Methode, wie Leonard Nelson sie neu begründet hat. Frankl ähnelt hier eher dem Lehrer der Antike, der mit der feinen Ironie, die dem platonischen Sokrates eigen ist, den Patienten dabei unterstützt, den Sinnaufruf gleichsam s e l b s t zu gebären, der in der jeweiligen Situation noch verborgen ist. Der Besonderheit der Arzt-Patienten-Beziehung entspricht sicher die oft auch tröstende Tonlage, die Frankl in seinem sokratischen Dialog findet - allerdings ist der Preis auch ein suggestives Element, das im Sokratischen Gespräch in der Nelson-Heckmann-Tradition unbedingt zu vermeiden ist.

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