Grundlagen des Sokratischen Gesprächs

Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren

Philosophieren im Gespräch, ohne sich auf Autoritäten zu berufen und gleichwohl ein philosophisches Niveau zu wahren - ist das möglich?

Leonard Nelson entwickelte, angeregt durch Sokrates und Immanuel Kant, eine Methode mündlichen Philosophierens, die dogmatischem Denken ebenso entgegen wirkt wie redseliger Beliebigkeit. Er hat seine neo-sokratische Methode 1922 in einem Vortrag an der Göttinger Universität vorgestellt, und viele Zuhörer waren wie elektrisiert. Hier eröffnete sich ihnen eine Möglichkeit, selbständiges Denken methodisch zu lernen und zu lehren. Als Sokratisches Gespräch ist diese Lern-/Lehrform immer weiter durchdacht, begründet und verfeinert worden, besonders von Nelsons Schüler Gustav Heckmann. Das Sokratische Gespräch wird heute an den unterschiedlichsten Lernorten (oft auch aus reinem Vergnügen) praktiziert.

Was ist das Sokratische Gespräch?

Sokratische Gespräche bezeichnet Gustav Heckmann als "Hilfsmittel des Denkens", ihr wesentliches Anliegen umschreibt Heckmann folgendermaßen: "Das Ziel ist, dass die Teilnehmer Einsichten gewinnen, und das heißt: sie im eigenen Geist auffinden. Einsicht ist etwas anderes als durch Sinneswahrnehmung vermittelte Kenntnis oder ein Wissen, das mir durch einen anderen vermittelt wird. Jeder kann die Einsicht nur reflektierend im eigenen Geiste finden. Das Gespräch zwischen Partnern, unter denen keiner für den anderen Autorität ist, kann dazu wesentlich helfen."

Auf der Suche nach eigenen Einsichten ist das Bemühen um Wahrheit die treibende Kraft. "Wahrheit" wird dabei kritisch verstanden: Wir können uns ihr nur anzunähern versuchen - ganz und absolut können wir uns nie gewiss sein, sie erfasst zu haben. Jede Person bringt auch eine andere Perspektive in die Erkenntnis-Prozesse ein, und unsere Perspektive im zeitlichen Voranschreiten des Weltgeschehens verändert sich zudem dauernd. Dennoch lohnt es sich, so wie Nelson nach den Prinzipien suchte, nach den Grundsätzen zu fragen, die allgemeinverbindlich sind, und sie gemeinsam aufzudecken. Das Sokratische Gespräch bietet eine Möglichkeit, in erkenntnistheoretischen Fragen, aber auch in Fragen und Problemen des alltäglichen Lebens wie des gesellschaftlich-politischen Handelns über bloß subjektives Meinen und relativistische Unverbindlichkeit hinaus zu gelangen. Im Sokratischen Gespräch bemühen wir uns, die eigenen Gedanken denen anderer gegenüberzustellen, Gründe für sie anzugeben, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren oder doch zu modifizieren - kurz: in Gemeinschaft zu denken und zu intersubjektiv haltbaren Aussagen zu kommen, denen alle Gesprächsteilnehmer/innen zustimmen können, zumindest am Ende des gemeinsamen Gesprächsprozesses

Derartige Konsense streben wir im Sokratischen Gespräch an, wir wissen jedoch um ihre prinzipielle Vorläufigkeit. Neu in den Blick kommende Gesichtspunkte erfordern erneute Überprüfung. Die Übung des Sokratischen Gesprächs weckt so in den Teilnehmenden die Bereitschaft und vermittelt durch das methodische Vorgehen auch die Fähigkeit zu kritischem und selbstkritischem Umgang mit Aussagen - gerade mit solchen Urteilen, Reden, Überzeugungen, die sicher festzustehen scheinen.

Themen im Sokratischen Gespräch

Es kann jedes Thema zum Gegenstand eines Sokratischen Gesprächs werden, das mit Hilfe der Reflexion über Erfahrungen der Gesprächsteilnehmenden erörtert werden kann. Dazu gehören neben philosophischen Fragen auch Fragen aus dem Bereich der Mathematik. Fragen, deren Beantwortung anderer Mittel als der Reflexion bedürfen, sind ungeeignet. Solche Instrumente wären zum Beispiel Experiment und Beobachtung oder Messung in der Natur oder im Labor, empirische Erhebungen oder historische oder soziologische Studien - selbstverständlich können aber alle aufgrund solcher Arbeitsweisen und ihrer Ergebnisse sich stellenden und weiterführenden wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsethischen Fragen zum Thema von Sokratischen Gesprächen werden. Abzugrenzen ist die Sokratische Methode auch von psychologischen Methoden zur Aufdeckung individueller seelischer Problematiken.

Hier einige Beispiele für Thema-Fragen eines Sokratischen Gesprächs:

Wann hat der Mensch einen freien Willen?

Gibt es berechtigte Ungleichheiten?

Was bedeutet es, verantwortlich zu handeln?

Ist alles Private politisch?

Sind wir verantwortlich für die Zukunft?

Brauchen wir Ideale?

Was ist Unrecht?

Sind Freiheit und Staat vereinbar?

Welche Kriterien sollen bei der Interessenabwägung in einer multikulturellen Gesellschaft maßgebend sein?

Was heißt es, eine Behauptung zu begründen?

Wie erkenne ich, dass ich mich irre?

Was heißt es, etwas zu messen?

Was bedeutet "sinnvoll"?

Was ist Zeit?

Was ist der Unterschied zwischen "wahr" und "wahrhaftig"?

Was ist der Unterschied zwischen Gewissheit und Wahrheit?

Was ist ein gutes Team?

Was ist Freundschaft?

Wo liegen die Grenzen der Toleranz?

Was ist persönliche Autonomie?

Wie erkenne ich mich selbst?

Was ist wirklich wichtig im Leben?

Wofür bin ich verantwortlich?

Voraussetzungen im Sokratischen Gespräch

Für die Teilnahme an einem Sokratischen Gespräch sind keine philosophischen Vorkenntnisse erforderlich, sondern allein die Bereitschaft und die Geduld, sich auf diese Methode mit den Kräften des eigenen Verstandes einzulassen.
Voraussetzung für das Gelingen eines Sokratischen Gesprächs ist die ununterbrochene Teilnahme aller vom Anfang bis zum Ende des Gesprächs.

Die Rollen von Teilnehmenden und Leitern in Sokratischen Gesprächen

In der Regel werden Sokratische Gespräche von einem Leiter oder einer Leiterin (engl. facilitator) geleitet, der/die sich weitgehend aus dem Sachgespräch heraushält. Die Aufgabe der Leitung ist, der Gesprächsgruppe zu Einsichten zu verhelfen. Dazu bedarf es zum einen der „Hebammenkunst“ (Maieutik), den einzelnen Teilnehmenden zum Hervorbringen der eigenen Gedanken zu verhelfen, und zum anderen des Beachtens eines geordneten Gesprächsverlaufs und dementsprechend geeigneter Lenkungsentscheidungen.

Sokratische Gespräche ohne Leitung sind möglich. Die Erfahrung zeigt aber, dass selbst bei gesprächserprobten Denkern ungelenkte Gespräche leicht zerfließen oder versanden. Ein Gesprächsleiter kann die Teilnehmenden von den Aufgaben der Gesprächs-Strukturierung entlasten.

Leonard Nelson hat in seiner Neubegründung der Sokratischen Methode zwei entscheidende Veränderungen gegenüber der Praxis des Sokrates vorgenommen: Ein Kreis von Teilnehmenden führt miteinander das Gespräch, während es bei Sokrates immer genau zwei Gesprächspartner waren, nämlich Sokrates selbst und ein "Schüler".

Ferner lehnt Nelson das suggestive Fragen ab, das Sokrates phasenweise praktiziert,- er verlangt vom Gesprächsleiter uneingeschränkte Zurückhaltung in der inhaltlichen Auseinandersetzung und stattdessen das "Frage- und Antwortspiel" zwischen den Teilnehmenden zu "entfesseln". Vorbildlich findet Nelson dagegen, dass Sokrates das "planmäßige unablässige Nachdenken", eben methodisches Denken, gelehrt hat; "pädagogische Größe" spricht Nelson Sokrates dafür zu, dass er als erster seinen Schülern den Weg des Selbstdenkens weist. Die Kunst des Sokrates, seinen Partnern im Gespräch bei der Geburt ihrer eigenen Gedanken beizustehen, ist unter dem Begriff "Maieutik" (griechisch für "Hebammenkunst") in die Philosophiegeschichte eingegangen - Sokrates selbst hatte seine Tätigkeit bekanntlich mit der seiner Mutter, der Hebamme Phainarete, verglichen.

Ablauf eines Sokratischen Gesprächs

Der Ablauf eines typischen Sokratischen Gespräches lässt sich wie folgt skizzieren:

Ausgehend von der jeweiligen Fragestellung (dem Thema des Gesprächs) berichten die Teilnehmenden von dazu passenden Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben. Eine dieser Erfahrungen wird als Beispiel ausgewählt, das der weiteren Erörterung zugrunde gelegt wird. Wichtig ist die Einfachheit, ja Alltäglichkeit und Begrenztheit des Beispiels, damit es für alle gut nachvollziehbar ist. - Bei mathematischen Fragen geht man entsprechend vor, hier gibt allerdings der Gesprächsleiter die Beispiele, Figuren etc. vor.

Die Gruppe bemüht sich nun um das Verstehen des gewählten Beispiels. Dies schließt häufig Klärungen des Gebrauchs einzelner Worte und Begriffe ein. Wichtig ist es, die Urteile herauszuarbeiten, die der Beispielsituation implizit sind. Sodann werden die Überzeugungen, Werte und Prinzipien freigelegt, die den herausgeschälten Urteilen zugrunde liegen. Erst dann kann eine Untersuchung erfolgen, in der Fragen der Allgemeingültigkeit geklärt werden. Leonard Nelson nannte dieses abstrahierende Vorgehen in seiner Begründung der Sokratischen Methode die regressive Methode der Abstraktion. Die wichtigen Aussagen beziehungsweise entscheidenden Gedanken werden während des Gesprächsprozesses als "roter Faden" für alle sichtbar schriftlich festgehalten.

Das eigentliche Ziel des Gesprächs ist ein Konsens in der Ausgangsfrage. In der Praxis wird Konsens oft in Teilfragen erreicht - ein reizvolles Ergebnis eines Sokratischen Gesprächs kann auch der Gewinn von neuen Fragen sein. Wichtig ist, dass alle Teilnehmenden einem bestimmten Urteil aus innerer Überzeugung und nicht aus Bequemlichkeit oder um eines schnellen, in Wirklichkeit aber nur scheinbaren Konsenses willen zustimmen.

Hier eine Liste der wichtigsten Regeln:

Im gesamten Gesprächsverlauf gilt es, die Regeln des Sokratischen Gesprächs zu beachten.

Jeder Teilnehmer teilt nur seine eigenen Gedanken mit, die Aussagen von "Autoritäten" gelten nicht als Argument.

Ausgangspunkt ist die konkrete Erfahrung, und auch beim Fortschreiten zu allgemeineren Einsichten muss der Zusammenhang mit der konkreten Ebene immer bewusst bleiben.

Das Gespräch soll als Hilfsmittel des Denkens voll ausgeschöpft werden. Das bedeutet auch, dass sich die Teilnehmenden ständig ihres wechselseitigen Verstehens vergewissern müssen.

Es muss auch auf die Struktur des Gesprächs geachtet werden. Das heißt, es muss den Teilnehmenden bewusst sein, welche Frage gerade zur Diskussion steht, ob und mit welcher Begründung die Gruppe sich einer anderen Teilfrage zuwenden will etc.

Es gilt uneingeschränkt die Aufrichtigkeits-Verpflichtung und das Erstreben eines Konsenses aus innerer Überzeugung.

Eine ausführlichere Fassung zu Sinn und Funktion insbesondere der konstitutiven Regeln findet sich in: Raupach-Strey, Gisela: Sokratische Didaktik, Kap. III.5 oder in Bd.IV der Schriftenreihe der PPA.

Das eigentliche Ziel des Gesprächs ist ein eine konsensuelle Antwort zu der Ausgangsfrage. In der Praxis wird Konsens oft in Teilfragen erreicht - ein reizvolles Ergebnis eines Sokratischen Gesprächs kann auch der Gewinn von neuen Fragen sein. Wichtig ist, dass alle Teilnehmenden einem bestimmten Urteil aus innerer Überzeugung und nicht aus Bequemlichkeit, Gruppendruck oder um eines schnellen, aber vermeintlichen Konsenses willen zustimmen.

Der Gesprächsleiter oder die -Leiterin nimmt nicht inhaltlich am Sachgespräch teil, vielmehr hilft er/sie der Gruppe, in dem maieutischen Prozess die eigenen Gedanken zu klären und zu begründen. Ferner achtet die Gesprächsleitung darauf, dass das Gespräch bei der gerade erörterten Frage bleibt und die Gruppe zu gemeinsamen Einsichten gelangt. Ob ein Sokratisches Gespräch gelingt, hängt aber auch vom Zusammenwirken der Gruppe ab. Jeder Teilnehmende ist für die Beachtung der Regeln, für hinreichende Flexibilität und einen konstruktiven Gesprächsverlauf mitverantwortlich.

So einleuchtend die Methode erscheint, die Praxis des Sokratischen Gesprächs ist - zugegeben - nicht immer leicht. Viel Geduld ist nötig, gruppendynamische Prozesse können zu Spannungen führen. Um das Sachgespräch von Störungen aller Art möglichst frei zu halten, wurde das Meta-Gespräch eingeführt, das Gespräch über das Gespräch. Bei der Standardform des Sokratischen Gesprächs, das eine Woche lang dauert, wird vormittags das Sachgespräch geführt. Nach einer schöpferischen Pause am Nachmittag wird am frühen Abend ein Meta-Gespräch gehalten. Von dieser Abfolge kann begründet abgewichen werden. In der Regel übernimmt die Leitung des Meta-Gesprächs einer Person, die Erfahrung mit Sokratischen Gesprächen hat Das Bewusstsein, Unklarheiten über das Vorgehen, Ärger oder andere Irritationen später im Meta-Gespräch vorbringen und bereinigen zu können, erleichtert es erfahrungsgemäß den Teilnehmenden, sich auf das Sachgespräch zu konzentrieren. Im Meta-Gespräch können auch Fragen zur Methode geklärt werden, oder es können Fragen des weiteren Vorgehens besprochen werden.

Wirkungen des Sokratischen Gesprächs

Teilnehmer Sokratischer Gespräche haben immer wieder festgestellt, dass die Gespräche weiterwirken. Man lernt, auch im Alltag ein kritischer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu werden, genauer zuzuhören, Phrasen oder bloße Schlagworte zu hinterfragen, aufmerksamer dogmatische Positionen anderer zu durchschauen. Die Übung im Nachdenken über Fragen der Moral kann zu einer Orientierungshilfe werden, wenn wir uns im privaten Leben oder im gesellschaftlichen Zusammenleben mit Problemen auseinandersetzen müssen. Die Erörterung von Fragen wie der nach der Reichweite von Verantwortung, nach dem Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit, nach Widerstandspflicht und vielen anderen wirkt dann direkt in das eigene Handeln hinein.

Das Selbstvertrauen wächst durch die Erfahrung, dass wir nicht darauf angewiesen sind, Urteile von Autoritäten zu übernehmen, sondern dass wir durch eigenes Denken und Argumentieren selbständig zu begründeten Urteilen kommen können. Das Sokratische Gespräch hat somit, selbst wenn längst nicht alle Themen unmittelbar politisch sind, als anti-doktrinäre Gesprächsform eine politische Wirkung insofern, als es zum mündigen Bürger-Sein ermutigt.

In einem Sokratischen Gespräch erfahren die Teilnehmenden, dass sie durch gemeinsames Nachdenken zu verbindlichen Urteilen kommen. Die Suche nach Gründen und die rationale Überprüfung der Argumente sowie das redliche Einbeziehen von alternativen Positionen und deren Überprüfung tragen zur Versachlichung bei und stärken das Urteilsvermögen. Die Teilnehmenden üben in geduldiger Konsenssuche, auch Minderheiten nicht zu bezwingen. Vielmehr werden sie darin bestätigt, dass das Vertrauen in die Möglichkeit sinnvoller Lösungen auch um den Preis langwieriger, von Umwegen und Irrtümern gekennzeichneter Dialoge sich lohnt: Das eigentliche Sokratische Experiment, "die Prüfung von Gründen und Gegengründen bis zu voller Einmütigkeit aller Teilnehmer durchzuführen", gelingt nach Gustav Heckmann nämlich häufig in der Weise, dass bei divergierenden Standpunkten niemand seinen Standpunkt als komplett unsinnig aufgeben muss; vielmehr werden Elemente eliminiert, die der Prüfung nicht standhalten, so dass die "Wahrheitskerne" klarer hervortreten und schließlich unterschiedliche Standpunkte nicht mehr als einander widersprechend, sondern als einander ergänzend erkannt werden können.

Problembewusstsein, die Fähigkeit zur Artikulierung, Geduld und Toleranz werden im Sokratischen Gespräch gefördert, Gesprächstugenden des mündigen Bürgers ausgebildet. In diesem Sinn sind mit der Durchführung solcher Gespräche neben den politischen immer auch pädagogische Auswirkungen verknüpft.

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